kuttner und david beim schubertkonzert in der max-schmeling-halle 1998


zusammenschnitte

Was sollen eigentlich immer diese ganzen Zusammenschnitte? Was ermuntert jemanden, das in der Hörfunksendung eines Jugendradiomoderators von ihm gesprochene Wort aufzuzeichnen, zu zerhackstückeln, dann in einen anderen Kontext zu stellen und dabei so zu tun, als wäre das gar nicht geschehen, sondern eine gewöhnliche Hörspielproduktion normaler Machart hätte stattgefunden? Und das dann auch noch mit wöchentlicher Regelmäßigkeit und sich über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren erstreckend?

Wenn es darum geht, das Wesen des Zusammenschnitts zu beleuchten, ist dies die richtige Fragestellung, obwohl die korrekte Beantwortung zunächst auslassen muß, zu welchem Zweck der Zusammenschnitt Mittel sein könnte. Das mag zunächst insofern verwundern, als menschliches Tun gewöhnlicherweise für zweckorientiert gehalten wird und der Zweck eines Mittels gleichzeitig die Motivation für seine Anwendung zu sein pflegt, nicht aber das Mittel selbst. Zusammenschnitt und Absicht des Zusammenschneidens aber sind miteinander identisch, was auf den ersten Blick eben nicht unbedingt einleuchtet und leider auch nicht viele Entsprechungen in unserer Welt findet. Mindestens ein Äquivalent läßt sich jedoch sofort ausmachen: der Sport.

Es ist nicht erst seit Castorf klar, daß auch Aktivitäten wie Theatermachen als sportliche Betätigung aufgefasst werden können (oder müssen), aber es ist wohl nötig, dann auch ausdrücklich darauf hinzuweisen. Es könnten dem Tun andernfalls gewöhnliche Zweckorientiertheit oder schnöde Sinnhaftigkeit unterstellt werden, was ein eklatantes Mißverstehen des gesamten zu betrachtenden Gegenstandes bedeutete.
Auch der Sportler will verstanden und deshalb überhaupt erst einmal als solcher erkannt werden. Man stelle sich vor, es würde einer Gruppe von Gehern (Ausübenden einer wenig ausgeübten, also seltenen Sportart) während eines sportlichen Wettstreits unterstellt, ihr Gehen sei beispielsweise nichts als der Ausdruck ihres Protestes gegen das Verschwinden jeglicher Bodenhaftung im soziokulturellen Leben aufgrund des zunehmenden Leistungsdenkens! Das wäre - zugegebenermaßen nicht sehr wahrscheinlich, aber denkbar und vor allem - falsch! Und es sähen sich die Geher zu Recht mißverstanden.

Der Zusammenschnitt ist nicht zuletzt ein technisches Produkt. Technik läßt sich grundsätzlich als verlängerter Arm des Menschen auffassen, was trivial angesichts der medizinischen Prothetik zu sein scheinen mag, aber anhand von Beispielen wie denen der heutigen Fotoapparate, Heimwerkermaschinen oder Taschenrechner in seinem überraschend umfassenden Gültigkeitsbereich auch dem gleichnisscheu Gesinnten anschaulich gemacht werden kann.
Welchen "menschlichen Arm" verlängert die Technik des Zusammenschneidens nun? Es hat tatsächlich Jahre gedauert, bis ich mich einer halbwegs zufriedenstellenden Beantwortung dieser Frage auch nur ansatzweise nähern konnte. Denn kein Mensch braucht die auseinandergenommenen, in eine neue Form gepressten Gesprächsteile eines Anderen. Kein Mensch interessiert sich dafür, was eine bestimmte Person Woche für Woche mit den anderen bespricht und modelt das schon gar nicht auch noch irgendwie um! Es ist zunächst nicht anzunehmen, daß wir es hier mit einer Technik zu tun haben, deren Ursprung in irgend einem uns bekannten menschlichen Verhalten zu suchen ist. Um Gewißheit zu erlangen, sollten wir dem Menschen jedoch einen Moment lang unterstellen, er übe eine äquivalente Tätigkeit tatsächlich in seinem natürlichen Lebenszusammenhang aus. Wir müssen uns also fragen, ob wir nicht alle in einem ganz ursprünglichen Sinne "zusammenschneiden".

Ein erstes Indiz für eine mögliche positive Beantwortung dieser Frage fand ich in der modernen Redewendung "Ey, Alter! Haste dit mitjeschnitten?", was ja übersetzt "Hast Du das jetzt richtig verstanden, Alter?" bedeutet. "Mitschneiden" meint "Aufnehmen" - also in letzter Konsequenz "in seinem Zusammenhang begreifen und verinnerlichen". Genau das ist natürlich auch methodologische Voraussetzung für den Zusammenschnitt: erstmal mitschneiden - und dabei auch verstehen - dann zusammenschneiden.

Wir sind ständig damit beschäftigt, Neues aufzunehmen und auch begreifen zu müssen, wollen wir uns in dieser Welt zurecht finden. Kontinuierlich müssen wir abspeichern und Gespeichertes einordnen in den Zusammenhang des bereits Gespeicherten. Wir sind ununterbrochen dabei, Information zu empfangen! Und diese Information muß dann teilweise auch wieder nach außen getragen werden. Sei es, um Terminabsprachen weiterzugeben, sei es, um erzählt bekommenen Klatsch wiederzugeben. Aber dies kann natürlich nicht immer im Verhältnis 1:1 geschehen! Das wäre meistens auch nicht unbedingt angebracht, weil ständig die eine Information mit der anderen veflochten, korrigiert oder für sich gefiltert werden muß. Wir müssen in erheblichem Maße sortieren um kommunizieren zu können!

Nichts anderes tut letztlich der Zusammenschneidende! Lediglich mit anderen Mitteln (und mit einem anderen Verhältnis Aufwand/Transfer) leistet er simple, in beträchtlichem Maße technisierte Kommunikationsarbeit! Das Zusammenschneiden ist die erweiternde Technik des uns allen wohlbekannten Umgangs mit Information.
Wer nun einwendet, hier bestünde ein grundlegender qualitativer Unterschied zwischen dem natürlichen Vorbild und seiner zusammenschnittstechnischen Entsprechung, der sei darauf hingewiesen, daß in diesem Sinne Problematisches auch in anderen Bereichen der Technik durchaus vorkommt. Man denke nur an die Nachrichtentechnik mit ihren Mängeln grundsätzlicher Natur oder an die Zahntechnik, in der Qualität überhaupt keine Rolle spielt.